Ein Leben im Kalifat: Auch Mädchen aus Deutschland entscheiden sich dazu, ihr bisheriges Leben aufzugeben und sich der Terrormiliz Islamischer Staat anzuschließen. Der selbsternannte Staat rekrutiert gezielt junge Frauen. Im Gegensatz zu ihren männlichen Gefährten ist eine Rückkehr bei ihnen fast ausgeschlossen.

Was bringt ein Mädchen aus Deutschland dazu, nach Syrien zu reisen und sich der brutalen Terrormiliz Islamischer Staat anzuschließen? Es scheint unvorstellbar – doch es passiert. Viele der Mädchen, die für den IS rekrutiert werden, sind gerade einmal zwischen 14 und 17 Jahren alt. Ein Alter, in dem man stark beeinflussbar ist.

Warum ziehen Berliner Mädchen freiwillig in IS-Gebiete?

Thomas Mücke vom Berliner Violence Prevention Network, das darauf spezialisiert ist, Radikalisierungen frühzeitig zu erkennen, unterscheidet bei jungen Frauen zwischen zwei Gruppen: „Einige der Frauen rutschen durch ihren bereits radikalisierten Partner in die Szene und realisieren häufig lange nicht, was genau passiert. Bei der anderen Gruppe handelt es sich oft um Mädchen, die in ihrem Leben privat und beruflich gescheitert sind oder das so empfinden.“

Mücke erklärt den Ansatzpunkt für die Extremisten so: Wenn alle Entscheidungen im Leben ins Chaos führen oder nichts erreicht wird, werden Menschen entscheidungsmüde. „Gerade bei Jugendlichen entsteht häufig die Bereitschaft sich jemandem unterzuordnen. Frauen suchen dann nach starken Männern, die Entscheidungen für sie treffen und für sie sorgen.“

Die Techniken der Salafisten

Der erste Kontakt zur Salafisten-Szene werde meistens durch Gleichaltrige, Schulkameraden oder entfernte Freunde hergestellt, erklärt Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Seit 2012 hat die Beratungsstelle 780 Fälle in Deutschland bearbeitet. Seit Mitte 2013 sind die Zahlen stark angestiegen und auch 2015 bleibt das Niveau hoch. „Knapp 20 Prozent aller Fälle betreffen junge Frauen“, erklärt Endres. Im Vergleich zu den Männern ist das wenig, jedoch stieg die Anzahl in den vergangenen Jahren an.

Was bringt diese Mädchen dazu, ihr bisheriges Leben aufzugeben? „Den jungen Frauen wird gesagt, sie hätten die Möglichkeit, in erster Generation einen neuen Staat mitzugestalten und dass sie Teil einer elitären Gemeinschaft seien. Sie fühlen sich als Auserwählte. Das ist ein sehr starkes Narrativ“, so Endres. Zudem würde ihnen vermittelt werden, dass westliche Frauenbilder sexualisiert seien und man dort kein Muslima-gerechtes Leben führen könne. Dieses sei nur innerhalb der Umma in den vermeintlich heiligen Gebieten des IS möglich.


dpa/EPA 
Er gilt als Kopf der Terrormiliz Islamischer Staat (IS): Abu Bakr al-Bagdadi.

Langsam tasten sich die Salafisten an ihre Opfer heran: „Sie zeigen den Mädchen Bilder von Frauen, die von ‚Ungläubigen‘ vergewaltigt wurden oder von ihren toten Glaubensschwester, die von westlichen Bomben umgebracht wurden. Sie zeigen diese Bilder immer und immer wieder und das richtet etwas in den Jugendlichen an“, sagt des Experte des Violence Prevention Networks. Die Rekrutierer wollten damit ein Gerechtigkeitsempfinden heraufbeschwören und an die Moral der Mädchen appellieren. „Irgendwann sagen sich die Mädchen: ‚Ich muss etwas tun, meine Schwestern und Brüder leiden.’“

„Wenn die Mädchen ausgereist sind, dann haben wir sie für immer verloren“

Lange Zeit haben sich die Rekrutierungsmechanismen des sogenannten Islamischen Staat auf Männer beschränkt. Doch um ihren Staat aufzubauen, benötigen sie auch Frauen. In der vergangenen Zeit zielt die IS-Propaganda deshalb vermehrt auf junge Mädchen ab. Sie werden nicht als Kämpferinnen rekrutiert, sondern als gehorchende Ehefrauen, die Kinder gebären, sich unauffällig verhalten und dem selbsternannten Staat Gehorsam erweisen.

Diejenigen, die sich bereits im Kalifat befinden, sollen ehemalige Freunde aus der Heimat anwerben. „Manche Mädchen schicken Bilder aus den Gebieten an alte Schulkameradinnen und sagen ihnen, wie toll es im IS ist und wie glücklich sie sind“, so Mücke.

Rückkehrerinnen gebe es bei Frauen eigentlich nie: „Wenn die Mädchen ausgereist sind, dann haben wir sie für immer verloren.“ Der Mitbegründer des Violence Prevention Networks erklärt den Sachverhalt nüchtern: „Frauen werden dort stark kontrolliert. Sie haben dort keinerlei Entscheidungsgewalt oder Möglichkeiten zu fliehen.“

Die Frau eines Märtyrers sein

Viele der radikalisierten Frauen befanden sich in einem schwierigen emotionalen Zustand, hatten soziale Probleme oder fühlten sich unverstanden – eine Phase, die alle Jugendliche durchmachen. Durch das Ausreisen in den Dschihad erlangen sie jedoch einen neuen sozialen Status: Sie werden zur Frau eines Kämpfers. Und selbst wenn ihr Ehemann im sogenannten Heiligen Krieg fällt, bleiben sie die Witwe eines Märtyrers. Auch das ist ein Grund, weshalb viele junge Frauen ihr Leben aufgeben, um sich dem IS anzuschließen.


AFP
IS-Kämpfer in Kampfmontur

„Es kann jeden treffen – auch die Tochter eines Polizeibeamten oder den Sohn einer Lehrerin. Dabei geht es nicht um Nationalität und auch nicht um irgendeinen Glauben. Der Salafismus hat mit der islamischen Religion nichts zu tun“, erklärt Mücke. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz leben derzeit 7.000 Salafisten in Deutschland, allein in Berlin sollen es 670 sein.

Radikalisierung wahrnehmen

Viele radikalisierte Jugendliche nehmen die Aussagen ihrer salafistischen Kontaktpersonen als bare Münze. Das erschwert die Rückführung der jungen Menschen zu einem gemäßigten Glauben. Trotzdem versuchen viele Netzwerke in Deutschland genau das. „Die Betreuungsprozesse sind komplex, aufwendig und langwierig“, sagt Endres vom Bamf. In einigen männlichen Fällen handelt es sich auch um Rückkehrer: „Man kann nie wissen, was genau sie erlebt haben und wie traumatisiert sie sind.“

Thomas Mücke betont, wie wichtig das frühzeitige Einschreiten in den Radikalisierungsprozess ist: „Ich wünsche mir, dass sich nicht nur die Familie, sondern auch Freunde und entfernte Bekannte an die Beratungsstellen in Berlin und in Deutschland wenden, sobald sie derartige Veränderungen an einer Person feststellen.“

 Der Fall der  16-jährigen Elif Ö. aus München, die vor einigen Monaten in den IS ausreiste, betrachtet Mücke als besonders gravierend: „Sie hatte so viel Unterstützung durch ihre Rekrutierer, dass niemand eine Veränderungen feststellen und sie sich heimlich dem IS anschließen konnte.“ Das Mädchen soll mittlerweile mit einem Kämpfer verheiratet sein, Propaganda für den IS betreiben und in Rakka leben.