Er will den Deutschen etwas zurückgeben und kocht deshalb auf den Straßen Berlins für Obdachlose. Seine Aktion verbreitete sich über soziale Netzwerke und rührte das ganze Land. Alex Assali aus Syrien wurde politisch verfolgt und war jahrelang auf der Flucht. Das ist seine Geschichte.
Der September war noch nie ein guter Monat für ihn. Der neunte Monat im Jahr bedeutet Flucht, Verfolgung, das erneute Verlassen der Heimat und Angst um das eigene Leben. Jedes Jahr im September kommen Erinnerungen in ihm hoch, die er verdrängen und vergessen möchte. Im September 2015 erreicht Alex Assali aus Syrien den Berliner Hauptbahnhof. Menschen wuseln um ihn herum, drängen in Züge, aus den Lautsprechern tönen Durchsagen, die er nicht versteht. Fest in seiner Hand hält er einen Zettel.
„Diese Frau werde ich niemals vergessen“
„Erstaufnahmelager in Spandau“ – dort soll Alex sich melden. Als Jugendlicher begleitete er seinen Vater zwei Mal nach Frankfurt: „Früher reisten Syrer gern und sahen viel von der Welt.“ Berlinkennt er allerdings nicht. Er steht verloren am Gleis und sucht nach dem Weg. Eine ältere Frau entdeckt ihn: „Kann ich Ihnen helfen?“ Noch bevor Alex ihr erklären kann, wo genau er hinmöchte, nimmt ihn die Dame an die Hand, setzt sich mit ihm in die S-Bahn und bringt ihn direkt zum Lager nach Spandau. „Ich war völlig überwältigt von ihrer Hilfsbereitschaft. Diese Frau werde ich niemals vergessen.“
Als Alex diese Geschichte erzählt, sitzt er im Café des Refugio in Neukölln – ein Wohnhaus-Projekt, das von Sven Lager und seiner Frau initiiert wurde und von der Berliner Stadtmission getragen wird. „Hier wohnen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten oder nach einem neuen Leben suchen“, sagt Lager. In 33 Zimmern sind Schutzsuchende aus Syrien, Somalia, Afghanistan, Palästina und anderen Ländern untergebracht. Auch Berliner, die sonst auf der Straße stünden, leben hier. Das Sharehaus soll als Modell für weitere Projekte dieser Art dienen.
„Ich will den Deutschen etwas zurückgeben“
Alex trägt ein Hemd, eine hellgraue Hose und einen feinen Wollmantel. Er redet mit sehr ruhiger, tiefer Stimme, in gutem Englisch und wählt seine Worte mit Bedacht. Er wollte lediglich etwas an die großzügigen Deutschen zurückgeben, kocht deshalb für Obdachlosein Berlin und wurde damit über Nacht zum viralen Star. „Die Reaktionen der Menschen auf meine Aktion haben mich total überrascht. Ich bin sehr gerührt.“
Bereits seit einigen Wochen bereitet Alex in seinem Zimmer im Refugio jeden Samstag Essen zu, das er anschließend an Obdachlose verteilt. Als ihn kürzlich eine junge Frau am Alexanderplatz entdeckt, postet sie ein Foto von ihm auf Facebook. Diese Nachricht verbreitet sich rasant in den sozialen Medien und ganz Deutschland ist gerührt von seiner Tat. „Den Obdachlosen muss geholfen werden. Ich werde damit weitermachen“, sagt Alex, obwohl ihn vor ein paar Wochen seine eigene Geschichte einholte und er sich nicht mehr auf Berlins Straßen wagte. Einen Monat lang sperrt er sich in seinem Zimmer im Refugio ein.
Flucht vor der syrischen Regierung
Geboren wird Alex in Syrien, doch seine Kindheit verbringt er in Saudi-Arabien. Da sein Vater Regime-Kritiker war, muss die Familie das Land bereits 1970 verlassen. Nachdem Alex 1997 die Schule beendet, zieht er in den Libanonnach Beirut, um zu studieren. Die Politik in seinem Heimatland Syrien beobachtet er mit wachem Auge und zieht 2003 wieder dorthin zurück. Den Aufstieg Baschar al-Assads zum Staatspräsidenten Syriens kritisiert Alex öffentlich. Im Jahre 2000 – als er Präsident wurde – war al-Assad gerade einmal 36 Jahre alt, also vier Jahre zu jung für das Präsidialamt. Da er jedoch in die Fußstapfen seines bekannten Vaters treten sollte, wurde das Gesetz kurzerhand geändert.
Gemeinsam mit elf weiteren Weggefährten betreibt Alex zu diesem Zeitpunkt einen regime-kritischen Blog. „Manche von meinen Leuten wurden festgenommen, andere konnten rechtzeitig fliehen“, erklärt Alex. Es war im September 2006 als ihn sein Cousin anruft und ihm mitteilt, dass die Polizeiauch hinter ihm her ist. Während er noch telefoniert, durchsucht die Polizei bereits Alex‘ Haus in Damaskus. In seinem Büro lässt er sofort alles stehen und liegen und macht sich auf den Weg: „Ich hatte nicht einmal einen Pass dabei. Nur etwas Geld. Insgesamt 2.000 Dollar.“ Alex macht eine lange Pause beim Erzählen und schaut auf den Boden. „Ich floh zunächst in den Libanon. Zypern. Ägypten. Sudan. Irgendwann – nach einem Jahr – kam ich in Libyen an. Mein Geld hatte ich für Schlepper ausgegeben.“
„Ich wollte keinen Krieg“
In Tripolis findet Alex einen guten Job an der Universität, arbeitet im Ingenieurswesen, heiratet und bekommt zwei Kinder. „Ich war glücklich in Libyen.“ Als der Arabische Frühling beginnt, möchte auch Alex sich engagieren. Er gründet mit fünf Bekannten eine Organisation. Sie unterstützen damit die syrische Revolution, sammeln Spenden dafür und helfen Familien bei der Flucht. „Ich bin ein Kriegsgegner. Ich wollte stets, dass die Revolution in Syrien auf diplomatischem und politischem Weg durchgeführt wird.“ Seine Kollegen aus der Organisation kritisieren seine Einstellung und behaupten, er würde damit bloß das syrische Regime unterstützen.
„Das war alles Propaganda. Ich hatte keine Wahl, ich musste die Organisation verlassen.“ Alex jedoch kämpft weiter für eine friedliche Lösung und baut sich ein Netzwerk mit Weggefährten aus Syrien und der Türkeiauf. Als der IS langsam aufsteigt, hat Alex keine Angst auch diesen öffentlich anzuprangern und erstellt dazu sogar eine Facebook-Seite: „Wir hatten 23.000 Likes in kurzer Zeit. Das mochten die Leute vom IS gar nicht.“
Folter und Gefangenschaft: drei Monate im IS-Gefängnis
Als Alex vom IS spricht, ist ihm seine Abneigung gegenüber dem selbsternannten Staat anzusehen. Er spricht deutlich und bestimmt: „Ich verabscheue diese Menschen. Sie nehmen sich Sätze aus dem Koran, interpretieren sie auf ihre Weise und wollen damit einen Staat begründen.“ Alex erzählt weiter: „Die IS-Leute haben mich gefunden und in Gefangenschaft genommen.“ Alex verbringt mehr als drei Monate in einem IS-Gefängnis in Tripolis, wird gefoltert und schaut dem Tod mehrfach ins Gesicht.
„Sie wollten wissen mit wem ich zusammenarbeite und ließen mich deshalb erst einmal am Leben.“ Mit der Hilfe eines Gefängnismitarbeiters gelingt ihm schließlich die Flucht. „Ich musste ihm meine gesamten Besitztümer überschreiben. Dafür half er mir.“ Im 70 Kilometer entfernten Sabrata nimmt Alex das erste Boot in Richtung Europa und landet zunächst in Italien. Das war im September 2013.
„Du bist ein Verräter und arbeitest gegen uns!“
Alex‘ Kinder sind heute vier und zwei Jahre alt. Seit mehr als einem halben Jahr hat er keinen Kontakt mehr zu ihnen. „Meine Frau hat meine Arbeit immer unterstützt. Als ich in Europaankam, wollte ich meine Familie nachholen. Ich kann nicht verstehen, was dann passiert ist.“ Er schaut aus dem Fenster in die kleine Neuköllner Straße, es regnet seit Stunden, sein Blick ist leer.
Vor sieben Monaten telefonierte er das letzte Mal mit seiner Frau – sie sagte ihm, sie wolle die Scheidung. Alex verstand die Welt nicht mehr. Sie fügte hinzu: „Du bist ein Verräter und arbeitest gegen uns! Gegen den Staat und meinen Bruder.“ Sie verbot ihm nach ihr zu suchen und ordnete an, dass er seine Kinder nie wieder sehen dürfe. „Ihr Bruder ist ein IS-Anhänger. Er hat sie wahrscheinlich auf seine Seite geholt.“ Alex kontaktiert daraufhin Freunde, bittet um Hilfe, doch kann seine Frau seit mehr als sechs Monaten nicht mehr ausfindig machen.
Deutschland – die Hoffnung auf eine neue Heimat
Als Alex in Berlin ankommt, sucht er nach Menschen, mit denen er sich unterhalten kann. An einem Abend sitzt er mit anderen Syrern zusammen und erzählt von sich. „Ich habe diesen Menschen vertraut. Denn sie sagten mir, dass auch sie gegen das Regime in Syrien seien. Wir tauschten die Handynummern aus und wollten und wiedersehen.“ Heute glaubt Alex, dass das ein Fehler war. „Ein paar Tage später bekam ich eine SMS von einer ausländischen Nummer. Darin stand: ‚Glaube nicht, dass wir dich in Deutschland nicht finden könnten.‘ Ich habe die Befürchtung, dass ich den Menschen zu viel von mir gesagt habe.“ Er hatte Angst und schloss sich zunächst in seinem Zimmer ein.
Doch Alex Assali ist ein mutiger Mann. Seit einigen Wochen tritt er wieder selbstbewusst auf die Straße und möchte sein Leben in die Hand nehmen. „Ab dem Sommersemester werde ich an der Technischen Universität meinen Master machen und dann bald einen guten Job finden.“ Außerdem plant er, weiterhin sein Projekt voranzutreiben. Er hat Land in Syrien, welches er gerade verkauft. Von diesem Geld möchte er ein Haus in Berlin kaufen und Obdachlose in einem Wohnprojekt darin wohnen lassen. Alex ist den Menschen in Deutschland sehr dankbar und möchte ihnen etwas zurückgeben: „Die Deutschen haben mir alles gegeben und mein Herz berührt. Deutschland ist meine neue Heimat.“